Woran Syrien wirklich zerbricht PDF Drucken E-Mail
Dienstag, den 02. Juli 2013 um 08:23 Uhr

Woran Syrien wirklich zerbricht

Von Jürgen TodenhöferVollbild anzeigen

Die USA schlachten das falsche Schwein.

Sechsmal war ich in den letzten zwei Jahren in Syrien, einem völlig verzweifelten Land. Vieles erinnerte mich an meine Reisen Anfang 2002 und 2003 durch den Vorkriegsirak. Auch damals war ich erschüttert über die Unwahrheiten, die westliche Politiker über das Land verbreiteten. Und über die Hoffnungslosigkeit der Menschen.

Den USA, Saudi-Arabien und Katar geht es im Syrienkonflikt primär nicht um Syrien, sondern um den Iran. Der ist ihnen durch den törichten Irakkrieg George W. Bushs zu stark geworden. Durch den Sturz des mit Teheran verbündeten Assad wollen sie Irans Vormachtstellung im Mittleren Osten schwächen.

An dieser Strategie zerbrechen Syrien und sein Gesellschaftsmodell, in dem die unterschiedlichsten Religionen und Ethnien in bewundernswerter Toleranz zusammenlebten.

Auch wenn es leider nicht demokratisch war.

Gleichzeitig stärkt der Krieg Al Qaida. 15 000 Rebellen kämpfen für deren syrische Filiale Al-Nusra. Ein Drittel davon sind ausländische Dschihadisten. Al-Nusra ist inzwischen die führende Kraft unter den Rebellen und weltweit die größte Al-Qaida-Konzentration. Ein Terror-Tsunami baut sich auf.

Auch die Gefahr eines Flächenbrandes ist unübersehbar. Zehn Länder sind bereits in den Konflikt verwickelt. Wenn der Mittlere Osten brennt, könnten auch bei uns die Lichter ausgehen. Wie kann man diese Entwicklung stoppen? Als Erstes sollte man die Propagandalügen beiseiteschieben, die eine Analyse des Konflikts erschweren.

Erstens: Anders als in Tunesien, Ägypten und Libyen kämpft in Syrien nicht das „Volk“ gegen einen isolierten Diktator, sondern eine starke oppositionelle Minderheit gegen eine relativ stabile Regierungsmehrheit. Assad hat in der Bevölkerung mindestens so viel Rückhalt wie die Rebellen, wahrscheinlich sogar mehr. Ob uns das gefällt oder nicht.

Zweitens: Die fast 100 000 Opfer gehen nicht allein auf das Konto der staatlichen Sicherheitskräfte. Auch die Rebellen töten das eigene Volk. Grob geschätzt sind ein Drittel der Toten Soldaten und Polizisten, ein Drittel Rebellen, ein Drittel Zivilisten. Der christliche Patriarch von Syrien sagte mir, die Rebellen töteten sogar mehr Zivilisten als das Regime. Wann hat Al Qaida je Rücksicht auf Zivilisten genommen?

Drittens: Die überwältigende Mehrheit der Rebellen kämpft längst nicht mehr für Demokratie. Sie hat sich völlig radikalisiert. Selbst weite Teile der angeblich gemäßigten „Freien Syrischen Armee“ treten mittlerweile für ein „islamisches Kalifat“ ein. Für eine Diktatur religiöser Fanatiker.

In dieser Situation westliche Waffen an die Rebellen zu liefern, ist unverantwortlich. Es gibt gar keine nennenswerten „gemäßigten Rebellen“ mehr.

Außerdem ist die syrische Al Qaida inzwischen so stark, dass sie sich aus allen Lieferungen das Beste aussuchen kann. Wer Kampfgerät an Rebellen liefert, unterstützt immer Al Qaida. Das tun die USA heimlich seit langem. Die Lieferungen Saudi-Arabiens und Katars an Al Qaida geschahen stets mit ihrer Zustimmung, weil sie das Potenzial Al Qaidas in Syrien unterschätzten. Die USA als fünfte Kolonne Al Qaidas – eine Perversion jeder Antiterrorpolitik.

Der Konflikt lässt sich nur durch Verhandlungen lösen. Und zwar auch mit dem Iran. Die Wahl Hassan Rohanis zum iranischen Präsidenten ist eine historische Chance, die 33-jährige Sprachlosigkeit zwischen Teheran und Washington zu überwinden. Ich war in den letzten Monaten und Jahren mehrfach im Iran. Seit 2010 liegt dem Weißen Haus ein umfassender iranischer Vorschlag zur Überwindung des Konflikts vor. Ich war an seiner Überbringung nicht unbeteiligt.

Auch mit Assad müssen die USA verhandeln, wenn sie ihr Terrorzuchtprogramm in Syrien rückgängig machen wollen. Das Argument, Assad sei politisch für den Tod von hunderttausend Menschen verantwortlich, kann kein Verhandlungshindernis sein. Die USA sind im Irak und in Afghanistan für den Tod von viel mehr Menschen verantwortlich. Schätzungen der „Ärzte gegen den Atomtod“ kommen auf über 1,6 Millionen Kriegsopfer.

Für einen „fairen Frieden“ wäre Assad zu weitreichenden Zugeständnissen bereit. Ich hatte die Gelegenheit, diese mit ihm viele Stunden zu erörtern. Den USA sind diese „Überlegungen“ inzwischen in allen Einzelheiten bekannt.

Wichtigste Voraussetzung einer Lösung des syrischen Knotens ist der Stopp aller Geld- und Waffenlieferungen aus Saudi-Arabien und Katar. Russland und der Iran müssten sich anschließen. In einer Waffenpause ließen sich folgende Ziele realisieren: eine von Regierung und Opposition paritätisch besetzte Übergangsregierung, eine demokratische Verfassung, die den multikulturellen Charakter Syriens wahrt, eine gemeinsame Bekämpfung Al Qaidas und freie Wahlen. Ob die Syrer einen Wechsel ihrer Führung wollen, entscheiden nur sie. Nicht die USA.

Die USA sollten nachdenken, wer gefährlicher ist: Al Qaida oder Assad. Churchill würde sagen: „Sie sind dabei, das falsche Schwein zu schlachten.“

Der Autor war von 1972 bis 1990 CDU-Bundestagsabgeordneter und bis 2008 im Vorstand von Burda. Heute ist er Sachbuchautor.

Zuletzt aktualisiert am Freitag, den 16. August 2013 um 12:55 Uhr